Freitag, 22. März 2024

Wir haben den gleichen Weg

Wir haben den gleichen Weg

Karins kleine Reisetasche steht gepackt in einer Ecke des Schlafzimmers. Obenauf die Papiere fürs Krankenhaus.
Nachdem ihr Entschluss feststand, fühlte sie sich von tausend Kämpfen befreit. Nun gilt es Ruhe und Gelassenheit zu bewahren, so wie sie es von den stoischen Philosophen Marc Aurel und Epiktet gelernt hatte. Zu den wichtigsten Tugenden zählte, in Krisen und Nöten besonnen zu bleiben, dem Tod gelassen entgegenzusehen, seine Gefühle zu beherrschen.
Karin schaut noch einmal auf den Namen des OP-Oberarztes, Doktor Oppendorf.
Sie fühlt sich wie die chinesische Sportschützin Du Li, die vor ihrem Olympiasieg sagte, "Meine volle Konzentration, mein ganzes Ich gilt nur dem einen Ziel, nichts vermag mich zu stören oder aufzuhalten."
Bis in letzte Detail liegt ihr Plan vor ihrem inneren Auge.
Karin wählt die Nummer ihrer Freundin. "Hallo Gabi, ich nehme deine Einladung zum Medizinerball gerne an und freue mich schon. Wann soll ich bei dir sein?"
An ihrem Ohr erklingt Gabis fröhliche Stimme.
Vom Monitor des PCs leuchtet ihr das Foto des Oberarztes entgegen. Die halbe Nacht hatte sie im Netz geforscht. Fand sein Bild und Referenzen. Er scheint ein kompetenter, junger Arzt zu sein, der sein Handwerk versteht.
Ich habe ohnehin keine Wahl, denkt sie bitter. Ohne Operation bin ich in einem halben Jahr nicht mehr unter den Lebenden.
Sie versucht die auftauchenden Erinnerung vergeblich wegzudrängen. Wieder liegt sie als zwanzigjähriges Mädchen auf der Intensivstation. Erfährt vom Chirurgen, dass ihr die Eileiter entfernt wurden. Tubenkarzinom, sehr selten bei jungen Frauen, doch bei ihr rechtzeitig erkannt. Entdeckt bei einer Routineuntersuchung.
Wieder hört sie die Worte, "Sie sind jung und werden das wegstecken."

All die Jahre versuchte sie ihren Makel zu verstecken. Ging Frauen aus dem Weg, die einen Kinderwagen schoben. Ließ Männer wie heiße Kartoffeln fallen, sofern sie in ihre Zukunftspläne den Kinderwunsch einbezogen. Spielte die emanzipierte Frau, die die Männer nur zur Lustbefriedigung braucht. Kostete ihr "nicht mehr ganz Frausein können" aus. Spürte, wie sie oft von Müttern beneidet wurde. Sie schwebte viel zu oft auf hohen Schuhen nach der Stadt, sie küsste in den Bars nicht nur die Gläser tief auf den Mund.
Mehr als zehn Jahre brauchte sie, um zu sich zurückzufinden.
Karin erhebt sich mit einem Ruck. Es wird Zeit, sich auf den Abend und die letzte Nacht vor dem Klinikaufenthalt vorzubereiten.
Bei Gabi gibt es gut gekühlten Sekt zum Warmwerden. Karin ist überzeugt, sie spielt ihre Rolle als unversehrte Frau glänzend. Inzwischen ist sie sich sicher, sie wird durch Gabi auch Martin Oppendorf kennenlernen. Alles andere ist dann ein Kinderspiel.
Die beiden Frauen legen einen großen Auftritt hin. Darin sind sie mittlerweile geübt.
Karin trägt sehr hohe, weinrote, vorne gebundene Sommerstiefellettos, dazu ein hautenges schwarzes Kleid. Es dauert keine zehn Minuten und sie sind umringt von Ärzten.
Eine Stunde später tanzt Karin im Arm des Oberarztes Martin. Kurz nach Mitternacht verabschiedet sie sich mit einem Augenzwinkern von ihrer Freundin.
Als Karin mit Martin das Fest verlässt, denkt sie, alles läuft im Zeitplan.
An der Wohnungstür schaut sie Martin an. Genau diesen Schlafzimmerblick erwartete ich, denkt sie mit Genugtuung. Die Tür fällt ins Schloss und sie fallen sich in die Arme. Den ersten zarten Küssen folgen verlangende.
"Martin, was magst du trinken?" Martin lächelt, "nur noch dich, gehen wir ins Schlafzimmer?"
"Ich möchte mich nur noch frisch machen, bin gleich wieder bei dir. Magst du mir das Kleid aufmachen?" Martin öffnet es ganz sachte und berührt zärtlich Karins Brüste. Er küsst sie liebevoll auf den Hals und plötzlich, wie aus dem Nichts, sackt Karin zusammen. Sie spürt, dass Martin sie auffängt, aufs Bett legt.
"Was ist los mit dir, Karin, was habe ich falsch gemacht?" Karin möchte antworten, doch sie friert so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlagen. Nach einer ganzen Weile wird Karin sich ihrer Situation gewahr. Sie sitzt eingehüllt in ihrer Bettdecke und Martin hält sie in den Armen. Es fühlt sich wunderbar an.Sie merkt, wie die Wärme in ihren Körper zurückkehrt, Martin sich vorsichtig von ihr löst.
"Jetzt willst du gehen", flüstert Karin.
"Nein, ich will dir einen Tee kochen. Der wird dir guttun."
"Ich muss mich heute festhalten“, schluchzt Karin, „morgen kann ich es nicht mehr. Morgen wirst du nur noch mein OP-Arzt sein. Ich habe die Diagnose Brustkrebs und eine Brustamputation ist zwingend nötig. Ich habe solche Angst, ich bin doch so gerne Frau gewesen."
Karin fängt den bestürzten Blick von Martin auf, der sich schnell abwendet und in Richtung Küche geht. Sie hört Geschirr klappern. Ihr ist zum Heulen zu Mute. Nichts habe ich aus meinen Schicksalsschlägen im Leben gelernt, denkt sie. Immer wieder haben Unschuldige für mein Unglück gebüßt. Ich habe mich mehr als schuldig gemacht.
Als Martin mit dem Tee ins Schlafzimmer zurückkommt, sagt Karin mit gefasster Stimme, "Ich kann verstehen, wenn ich mir jetzt einen anderen OP-Arzt suchen muss und du mich nie wiedersehen möchtest. Ich kann mich nur selbst nicht verstehen."
Martin schloss Karin fest in seine Arme.
"Ich werde dich begleiten, solange du willst. Du wirst auch danach eine Frau sein, ich verspreche es dir. Denke jetzt nicht darüber nach, geh unter die Dusche. Ich setze uns Kaffee auf. Danach nehme ich dich an die Hand. Wir haben den gleichen Weg zu gehen."

© Ilona Pagel

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