Donnerstag, 1. Januar 2015

Sommerferien im Jahr 1968

Geboren als Bauernkind kannte ich keinen Urlaub, in dem die ganze Familie verreiste. Bauern machten keine Ferien. Für einen Rüganer war Reisen ein Fremdwort.
Bei uns im Flur des Hauses hing ein gerahmter, fein säuberlich gestickter Spruch:

"Tu Hus is tu Hus
Wer Dag för Dag sin Arbeit deit
und jümmers op sin Posten steiht,
und deit dat got und deit dat gern,
de dörf sick ok mal amüseern"

Amüsieren bedeutete für einen richtigen Insulaner, die Gummistiefel auszuziehen und mit einem Pott Kaffee auf der Gartenbank zu sitzen. Mein Vater war ein echter Rüganer, der nichts so sehr liebte wie seine eigene Scholle. Meine Mutter meinte immer, der alte Bismarck hätte noch untertrieben, als er meinte: „wenn die Welt untergeht, so ziehe er nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles 50 Jahre später.“
Mein Vater sah keinen Sinn darin, auf Reisen zu gehen.
Trotz allem verbrachte ich die Schulferien, die DDR-weit mit acht Wochen im Juli und August feststanden, nur teilweise zu Hause.
'Erst die Arbeit, dann das Vergnügen', lernten wir von Kindesbeinen an. Dieser oft gehörte Spruch signalisierte erst recht, in der schulfreien Zeit unseren Obolus am Hof und zu Gunsten der Familie zu erbringen.
Zu unserem Eigentum zählten ein Hof mit Gemüsegarten und unzählige Obstbäume. Da mangelte es nie an Arbeit. Die Eltern fragten uns Kinder nicht lange. Zu den alltäglichen Pflichten zählte, den Garten unkrautfrei zu halten, beim Konservieren zu helfen und der Mutter für weitere Handgriffe im Haushalt zur Verfügung zu stehen.
Außerdem hatten wir Haustiere und an den Hof grenzte ein Hektar Ackerland. Ein Hektar entspricht zehntausend Quadratmetern. Wir selbst rechneten in Morgen wie schon unsere Großeltern. Vier Morgen Land sind ein Hektar. Dieser Acker wurde einige Jahre mit Rüben oder Wruken bebaut. Wruken heißen in anderen Gegenden Steck- aber auch Kohlrüben. Mit Drillmaschinen wurden im Frühjahr die Rüben in Reihen in die Erde gebracht und im Mai bis Juni verzogen. Das Verziehen bedeutet das Entfernen von Jungpflanzen im Abstand einer Hackenbreite. Die größte Pflanze blieb stehen. Nach vier bis fünf Wochen begann die sogenannte Rundhacke. Der Boden um die Rübe wurde dabei mit der Hacke gelockert und das Unkraut beseitigt. Diese Arbeit fiel in erster Linie uns Kindern zu.
Selbstverständlich gehörten die Routinearbeiten, die wir auch während der Schulzeit erledigten, in den Ferien zu unserem täglichen Programm. Dazu zählte für mich immer, die kleineren Geschwister zu umsorgen. Sie zu waschen, anzuziehen und das Frühstück zu machen. Diese Aufgabe fiel mir nicht immer leicht bei sechs kleineren Geschwistern.
Meine Mutter war inzwischen im Stall, um die Kuh zu melken und auf dem Hof nach dem Rechten zu sehen.
Nach Erledigung all dieser Arbeiten fingen dann für uns Bauernkinder die Ferienfreuden an.
Das größte Vergnügen brachten die Ferienspiele. Sie wurden durch die Lehrer und einige Eltern für vier Wochen organisiert.
Ein ungewöhnlich heißer Sommer erwartete uns damals 1968.
Für uns junges Volk zählte in diesen Wochen nur eines, das pure Genießen der knappen Freizeit.
Gemeinsam gingen wir in Gruppen baden oder vergnügten uns auf dem Sportplatz oder Schulhof.
Sportliche Wettkämpfe in der Gemeinschaft Gleichaltriger machten nicht nur mir immer aufs Neue Spaß. Ich erinnere mich gerne zurück an Vergnügungen wie Schnitzeljagd durch das ganze Dorf, Tontaubenschießen und Mitternachtsdisco an der Ostsee.
Auch Tagesausflüge standen auf dem Programm.

Der schönste davon war der Besuch der Insel Hiddensee. Wir hatten es alle irgendwie geschafft, für diesen Tag ein Fahrrad zu organisieren. So fuhren wir auf unseren Drahteseln zur Anlegestelle der “Weißen Flotte” nach Altefähr. Für die sieben Kilometer brauchten wir einige Zeit, denn die Landwege waren voller Steine und ausgewaschener Kuhlen. Doch dann begann endlich die große Abenteuerfahrt. Nur wenige von uns kannten die Insel bereits, obwohl sie gerade einmal zwei Bootsstunden entfernt lag.
Schon auf der Überfahrt sangen wir. Immer wieder erklang „Jetzt fahr'n wir über‘n See, über'n See“ und „Pack die Badehose ein“.
In Neuendorf angekommen, erkundeten wir die Trauminsel mit dem Rad. Durch die Dünenheide ging es zum Süderleuchtturm auf dem Gellen. Hier leuchtete der Ginster gelb und es duftete nach Walderdbeeren. Wir konnten uns kaum satt sehen. In der Nähe des Leuchtturmes wurde Zwischenstation gemacht. Wir, die acht „unzertrennlichen“ Freundinnen, bildeten einen Kreis um Elisabeth. Sie war erst seit zwei Tagen zurück aus dem Urlaub mit ihren Eltern. Ihr Vater war Pastor im Dorf und sie hatten zwei Wochen in der Tschechoslowakischen Volksrepublik verbracht. Wir anderen waren ganz gespannt auf ihren Bericht.
Bevor sie zu erzählen anfing, schenkte sie jedem von uns einen knallroten Kaugummi. Wie herrlich der schmeckte! Elisabeth berichtete von Läden in Prag, die mit Waren aus dem Westen gefüllt waren. Sie hatte dort bunte Miniröcke anprobiert. Aber ihr Vater erlaubte ihr nicht, einen davon zu kaufen. Sie meinte, wir lebten hier hinterm Mond und in Prag würden alle jungen Leute wie die Beatles aussehen. Dort gäbe es auch jede Menge Zeitungen und Bücher aus Westdeutschland. Aber die durften sie ja nicht mitbringen. Immerhin schaffte ihr Vater es, zwei Schallplatten am Zoll vorbeizuschmuggeln. Eine von Peter Kraus und eine von Peggy March. Da war auch das Lied „Mit siebzehn hat man noch Träume“ drauf. Diesen Hit kannten wir alle und so erklang es im Chor: „Mit siebzehn hat man noch Träume - Da wachsen noch alle Bäume - In den Himmel der Liebe …“.
Besonders schwärmte Elisabeth vom Besuch eines Konzerts mit dem großen Star Karel Gott. Er würde in der Tschechoslowakei ähnlich verehrt wie Peter Kraus im Westen.
Ihre Eltern hatten aber auch Befürchtungen. Sie zweifelten, dass die sozialistische Staatengemeinschaft zusehen würde, wenn die Tschechei ihre Liberalisierung fortsetzt und mit dem kapitalistischen Ausland freundschaftlich umginge. Sie machten sich große Sorgen, weil sie mutmaßten, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Aber Lisbeth, so nannten wir Mädchen sie, meinte, wenn ihre Eltern im nächsten Jahr nicht fahren würden, dann führe sie eben mit ihrem großen Bruder, das sei schon abgemacht.
Nachdem Elisabeth ihren Bericht beendet hatte, ließen wir die Räder stehen und liefen zum Strand hinunter. Dort trafen wir auf unsere Jungs. Wir sangen lauthals: „Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Rosita seit heut zu ihrem Kokosnusskleid ….“
Einer der Jungs erklärte uns großspurig, es gäbe da längst einen neuen Text, der viel besser passen würde, nämlich diesen: „Zwei Apfelsinen im Jahr und zum Parteitag Bananen, dass ganze Volk schreit Hurra, der Kommunismus ist da“.
Wir tanzten ausgelassen und trällerten so laut, das es unserem Klassenlehrer zu bunt wurde. Er meinte, wir sollten sofort mit diesem Unsinn aufhören. Natürlich sahen wir, dass er sich das Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
Nach einem abkühlenden Bad ging es weiter zum wunderschönen Fischerdorf Kloster mit dem Gerhart-Hauptmann-Haus. Dort standen überall weißgetünchte, reetgedeckte Fischerhäuser.
Ein Fischer zeigte uns, wie auf der Insel der Fisch fürs Festland vorbereitet und zum Teil auch schon geräuchert wurde. Anschließend bekamen wir eine Riesenportion Bratfisch zu essen. Nachdem er von großen Bernsteinfunden an der Steilküste, die jüngst gemacht wurden, erzählt hatte, suchten wir stundenlang, aber vergeblich. Unsere ganze Ausbeute waren Donnerkeile, versteinerte Austern, Seeigel und Schwämme. Müde und voller neuer Eindrücke kehrten wir mit dem letzten Dampfer aufs Festland zurück.
Vor der Schule verabschiedeten wir uns alle voneinander. Mein Klassenkamerad Klaus brachte mich noch nach Hause. Und beim Abschied fragte er mich, ob wir zusammen gehen wollten? Ein wenig überraschte mich die Frage, denn Klaus und ich waren seit der ersten Klasse ein unzertrennliches Pärchen. Doch ich sagte schnell „ja gerne“. Sofort begannen wir Pläne zu schmieden: Nach Schule und Lehrzeit wollten wir beide Insulaner werden. Auf Hiddensee würden wir glücklich und in Harmonie leben. Diesen gemeinsamen Traum besiegelte unser erster zarter Kuss.
Erst als ich im Bett lag, wurde mir bewusst, dass ich an diesem Tag meinen ersten Kuss, die erste Liebeserklärung bekommen hatte. Stunden lag ich noch wach und malte mir Bilder aus von meiner Zukunft mit Klaus.

Am nächsten Morgen begrüßten wir uns ziemlich verlegen. Zuerst ging jeder seinen eigenen Aufgaben nach. Ich half einem Bauern, der Drittklässlern Reitunterricht gab. Meine ersten Erfahrungen auf dem Rücken eines Pferdes hatte ich schon mit vier Jahren gehabt.
Die landwirtschaftliche Genossenschaft stellte dafür Pferde und Ponys zur Verfügung. Die Kleinen lernten Reiten und bekamen als Auszeichnung „Das goldene Hufeisen“.
Den Abschluss und besonderen Höhepunkt der Ferienwochen bildete das Ringreiten, welches in ein Dorffest eingebunden wurde. Wir bastelten uns dafür mittelalterliche Kostüme, selbstredend durften dazu die bunt bemalten Schilde nicht fehlen.
Sofern ich mein Amt erledigt hatte, fuhr ich zum Strand. Dort war Klaus als Helfer bei den Rettungsschwimmern. Er war nicht nur ein exzellenter Schwimmer, Klaus konnte besonders behutsam mit kleinen Kindern umgehen. Stundenlang mochte ich ihm bei seiner Tätigkeit zuschauen. Ich stellte mir dann immer vor, wie gut er später mit unseren Kindern zurechtkommen würde. Für mich stand außer Frage, Klaus musste Lehrer oder Kinderarzt werden. Nur er selbst war sich seiner Zukunft nicht so sicher. Sein größter Traum war immer, ein großer Schauspieler zu werden.
Besonders er freute sich, dass über die gesamte Ferienzeit Projekte, die von der Schule angeboten wurden liefen. Wir trugen uns schon vor Ferienbeginn in entsprechende Teilnehmerlisten ein. Wir beide hatten uns selbstverständlich für die Theater-AG entschieden, die unser Klassenlehrer leitete. Wir studierten entweder bekannte Stücke ein oder schrieben selbst welche.
Mein Lieblingsbuch zu der Zeit war "Pause für Wanzka" von Alfred Wellm. Daher schrieben mein Freund und ich das Buch einfach zu einem Theaterstück um. Der Lehrer Wanzka war die Hauptrolle. Anders als normale Lehrer konnte er in jedem Kind das besondere Talent finden. Es war nicht wichtig, jedem Schüler alles beizubringen. Den Jungen mit dem Forscherdrang für die Bausteine der Welt ließ er forschen und gab ihm dazu einen Chemiebaukasten. Das handwerklich begabte Mädchen sollte ihr Traumhaus zeichnen und mit Hammer und Säge arbeiten. Der Lehrer erklärte ihr, wie sie mit Hilfe einfacher Formeln maßstabsgetreue Modelle anfertigen konnte. Selbst bei den Streithähnen der Klasse fand Wanzka das verborgene Talent. Der eine wollte gerne Jurist werden, der andere entschied sich dafür, als Journalist zu arbeiten.
Für die Aufführung fehlten uns die notwendigen Requisiten. Unser Lehrer hatte einmal erwähnt, dass eine Dorfbewohnerin früher einmal Schauspielerin war.

Nach langem Hin und Her besuchten wir die Frau. Das fiel uns nicht leicht, weil im Dorf kursierten die wildesten Gerüchte über sie. Weder mein Freund noch ich hatten mit ihr außer höflichen Grüßen je ein Wort gewechselt.
Im Dorf hieß sie einfach nur Gerda, die Franzosenbraut. Sie war eine auffällige Person von sehr großer und schlanker Statur. Gerda trug immer einen blonden Aufsteckdutt und war außerdem stark geschminkt.
Durch den Dorftratsch hatten wir erfahren, dass sie die „Franzosenkrankheit“ hatte. Sie sollte sich nach dem Krieg ja mit vielen Besatzungssoldaten herumgetrieben haben. Und das hatte sie nun davon. Was immer diese „Franzosenkrankheit“ sein mochte, ich würde mich jedenfalls nie mit fremden Männern herumtreiben, denn so vernarbt wie Gerda wollte ich nicht herumlaufen müssen. Die Krankheit entstellte diese Frau und wir hatten große Angst, uns anzustecken. Denn trotz der starken Schminke im Gesicht waren die vielen kleinen Narben nicht zu übersehen.
Nachdem wir Gerda in der Haustür stehend unser Problem mit den Requisiten kurz geschildert hatten, bat sie uns in ihre Wohnung. Sie bot uns sogar Limonade und Kekse an. Dann erzählte sie von ihrer Arbeit beim Varieté. Sie zeigte uns viele Fotos und einige ihrer selbst angefertigten Kostüme.
Als wir von unserem Plan erzählten, den „Lehrer Wanzka“ mit Schülern auf die Bühne zu bringen, nahm sie richtig Anteil. Gerda zeigte uns eine Auswahl Schnurrbärte und Perücken für die Figur des Lehrers. Neben den benötigten Perücken durften wir auch Schminkstifte mitnehmen. Unser Requisitenproblem war gelöst.
Das Tollste aber war: Unser Stück wurde am Ende der Ferienspiele öffentlich am Abend des Dorffestes aufgeführt.
Ein paar Tage davor wurden im ganzen Dorf Aushänge gemacht. Und alle Schulkinder sammelten Zutaten für den Kuchenbasar. Wir klopften an jeder Haustür und bekamen Obst, Eier und alle anderen, notwendigen Zutaten von den Bäuerinnen. Am Tag vor dem Fest ging dann eine Gruppe Freiwilliger zum Dorfbäcker und es wurde fleißig gebacken. Die Resultate riefen jedes Jahr aufs Neue Begeisterung hervor. Ich meldete mich immer als Verkäuferin für den Basar, da es mir einen Riesenspaß machte, die Leckereien anzupreisen. Noch heute erinnere ich mich an den Spruch, der den Verkauf ankurbeln sollte: „Kümm se röver, kümm se rann, bi uns warst anschätt wi neben an“. Für alle, die des Plattdeutschen nicht mächtig sind, hier die Übersetzung: „Kommen sie rüber, kommen sie ran, bei uns werden sie beschissen wie nebenan“ Gaben die Leute eine Spende für den Kuchen, sagten wir: „De betahlt, hett nich nödig to danken“ Übersetzung: „Der bezahlt, der musst nicht danken“ und grinsten dabei übers ganze Gesicht.

Am Abend bevor der Dorftanz für Jung und Alt losging, führten wir unser Theaterstück auf.
Es wurde ein riesiger Erfolg und es gab jede Menge Applaus. Damit gingen die Ferien und der heiße Sommer 1968 für eine überglückliche Dreizehnjährige zu Ende.

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