Donnerstag, 1. Januar 2015

saurer bonbon

das mädchen trug
zum ende des monats
das rabattmarkenheft
in händen und
den hundert mal
geprobten satz
"vater zahlt am ersten"
auf zerbissenen lippen
im einkaufsnetz
brot und margarine
gries und haferflocken
für die kleinste schwester
der bonbon als zugabe
fiel zu boden
als sie den lehrer erblickte

Sommerferien im Jahr 1968

Geboren als Bauernkind kannte ich keinen Urlaub, in dem die ganze Familie verreiste. Bauern machten keine Ferien. Für einen Rüganer war Reisen ein Fremdwort.
Bei uns im Flur des Hauses hing ein gerahmter, fein säuberlich gestickter Spruch:

"Tu Hus is tu Hus
Wer Dag för Dag sin Arbeit deit
und jümmers op sin Posten steiht,
und deit dat got und deit dat gern,
de dörf sick ok mal amüseern"

Amüsieren bedeutete für einen richtigen Insulaner, die Gummistiefel auszuziehen und mit einem Pott Kaffee auf der Gartenbank zu sitzen. Mein Vater war ein echter Rüganer, der nichts so sehr liebte wie seine eigene Scholle. Meine Mutter meinte immer, der alte Bismarck hätte noch untertrieben, als er meinte: „wenn die Welt untergeht, so ziehe er nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles 50 Jahre später.“
Mein Vater sah keinen Sinn darin, auf Reisen zu gehen.
Trotz allem verbrachte ich die Schulferien, die DDR-weit mit acht Wochen im Juli und August feststanden, nur teilweise zu Hause.
'Erst die Arbeit, dann das Vergnügen', lernten wir von Kindesbeinen an. Dieser oft gehörte Spruch signalisierte erst recht, in der schulfreien Zeit unseren Obolus am Hof und zu Gunsten der Familie zu erbringen.
Zu unserem Eigentum zählten ein Hof mit Gemüsegarten und unzählige Obstbäume. Da mangelte es nie an Arbeit. Die Eltern fragten uns Kinder nicht lange. Zu den alltäglichen Pflichten zählte, den Garten unkrautfrei zu halten, beim Konservieren zu helfen und der Mutter für weitere Handgriffe im Haushalt zur Verfügung zu stehen.
Außerdem hatten wir Haustiere und an den Hof grenzte ein Hektar Ackerland. Ein Hektar entspricht zehntausend Quadratmetern. Wir selbst rechneten in Morgen wie schon unsere Großeltern. Vier Morgen Land sind ein Hektar. Dieser Acker wurde einige Jahre mit Rüben oder Wruken bebaut. Wruken heißen in anderen Gegenden Steck- aber auch Kohlrüben. Mit Drillmaschinen wurden im Frühjahr die Rüben in Reihen in die Erde gebracht und im Mai bis Juni verzogen. Das Verziehen bedeutet das Entfernen von Jungpflanzen im Abstand einer Hackenbreite. Die größte Pflanze blieb stehen. Nach vier bis fünf Wochen begann die sogenannte Rundhacke. Der Boden um die Rübe wurde dabei mit der Hacke gelockert und das Unkraut beseitigt. Diese Arbeit fiel in erster Linie uns Kindern zu.
Selbstverständlich gehörten die Routinearbeiten, die wir auch während der Schulzeit erledigten, in den Ferien zu unserem täglichen Programm. Dazu zählte für mich immer, die kleineren Geschwister zu umsorgen. Sie zu waschen, anzuziehen und das Frühstück zu machen. Diese Aufgabe fiel mir nicht immer leicht bei sechs kleineren Geschwistern.
Meine Mutter war inzwischen im Stall, um die Kuh zu melken und auf dem Hof nach dem Rechten zu sehen.
Nach Erledigung all dieser Arbeiten fingen dann für uns Bauernkinder die Ferienfreuden an.
Das größte Vergnügen brachten die Ferienspiele. Sie wurden durch die Lehrer und einige Eltern für vier Wochen organisiert.
Ein ungewöhnlich heißer Sommer erwartete uns damals 1968.
Für uns junges Volk zählte in diesen Wochen nur eines, das pure Genießen der knappen Freizeit.
Gemeinsam gingen wir in Gruppen baden oder vergnügten uns auf dem Sportplatz oder Schulhof.
Sportliche Wettkämpfe in der Gemeinschaft Gleichaltriger machten nicht nur mir immer aufs Neue Spaß. Ich erinnere mich gerne zurück an Vergnügungen wie Schnitzeljagd durch das ganze Dorf, Tontaubenschießen und Mitternachtsdisco an der Ostsee.
Auch Tagesausflüge standen auf dem Programm.

Der schönste davon war der Besuch der Insel Hiddensee. Wir hatten es alle irgendwie geschafft, für diesen Tag ein Fahrrad zu organisieren. So fuhren wir auf unseren Drahteseln zur Anlegestelle der “Weißen Flotte” nach Altefähr. Für die sieben Kilometer brauchten wir einige Zeit, denn die Landwege waren voller Steine und ausgewaschener Kuhlen. Doch dann begann endlich die große Abenteuerfahrt. Nur wenige von uns kannten die Insel bereits, obwohl sie gerade einmal zwei Bootsstunden entfernt lag.
Schon auf der Überfahrt sangen wir. Immer wieder erklang „Jetzt fahr'n wir über‘n See, über'n See“ und „Pack die Badehose ein“.
In Neuendorf angekommen, erkundeten wir die Trauminsel mit dem Rad. Durch die Dünenheide ging es zum Süderleuchtturm auf dem Gellen. Hier leuchtete der Ginster gelb und es duftete nach Walderdbeeren. Wir konnten uns kaum satt sehen. In der Nähe des Leuchtturmes wurde Zwischenstation gemacht. Wir, die acht „unzertrennlichen“ Freundinnen, bildeten einen Kreis um Elisabeth. Sie war erst seit zwei Tagen zurück aus dem Urlaub mit ihren Eltern. Ihr Vater war Pastor im Dorf und sie hatten zwei Wochen in der Tschechoslowakischen Volksrepublik verbracht. Wir anderen waren ganz gespannt auf ihren Bericht.
Bevor sie zu erzählen anfing, schenkte sie jedem von uns einen knallroten Kaugummi. Wie herrlich der schmeckte! Elisabeth berichtete von Läden in Prag, die mit Waren aus dem Westen gefüllt waren. Sie hatte dort bunte Miniröcke anprobiert. Aber ihr Vater erlaubte ihr nicht, einen davon zu kaufen. Sie meinte, wir lebten hier hinterm Mond und in Prag würden alle jungen Leute wie die Beatles aussehen. Dort gäbe es auch jede Menge Zeitungen und Bücher aus Westdeutschland. Aber die durften sie ja nicht mitbringen. Immerhin schaffte ihr Vater es, zwei Schallplatten am Zoll vorbeizuschmuggeln. Eine von Peter Kraus und eine von Peggy March. Da war auch das Lied „Mit siebzehn hat man noch Träume“ drauf. Diesen Hit kannten wir alle und so erklang es im Chor: „Mit siebzehn hat man noch Träume - Da wachsen noch alle Bäume - In den Himmel der Liebe …“.
Besonders schwärmte Elisabeth vom Besuch eines Konzerts mit dem großen Star Karel Gott. Er würde in der Tschechoslowakei ähnlich verehrt wie Peter Kraus im Westen.
Ihre Eltern hatten aber auch Befürchtungen. Sie zweifelten, dass die sozialistische Staatengemeinschaft zusehen würde, wenn die Tschechei ihre Liberalisierung fortsetzt und mit dem kapitalistischen Ausland freundschaftlich umginge. Sie machten sich große Sorgen, weil sie mutmaßten, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Aber Lisbeth, so nannten wir Mädchen sie, meinte, wenn ihre Eltern im nächsten Jahr nicht fahren würden, dann führe sie eben mit ihrem großen Bruder, das sei schon abgemacht.
Nachdem Elisabeth ihren Bericht beendet hatte, ließen wir die Räder stehen und liefen zum Strand hinunter. Dort trafen wir auf unsere Jungs. Wir sangen lauthals: „Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Rosita seit heut zu ihrem Kokosnusskleid ….“
Einer der Jungs erklärte uns großspurig, es gäbe da längst einen neuen Text, der viel besser passen würde, nämlich diesen: „Zwei Apfelsinen im Jahr und zum Parteitag Bananen, dass ganze Volk schreit Hurra, der Kommunismus ist da“.
Wir tanzten ausgelassen und trällerten so laut, das es unserem Klassenlehrer zu bunt wurde. Er meinte, wir sollten sofort mit diesem Unsinn aufhören. Natürlich sahen wir, dass er sich das Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
Nach einem abkühlenden Bad ging es weiter zum wunderschönen Fischerdorf Kloster mit dem Gerhart-Hauptmann-Haus. Dort standen überall weißgetünchte, reetgedeckte Fischerhäuser.
Ein Fischer zeigte uns, wie auf der Insel der Fisch fürs Festland vorbereitet und zum Teil auch schon geräuchert wurde. Anschließend bekamen wir eine Riesenportion Bratfisch zu essen. Nachdem er von großen Bernsteinfunden an der Steilküste, die jüngst gemacht wurden, erzählt hatte, suchten wir stundenlang, aber vergeblich. Unsere ganze Ausbeute waren Donnerkeile, versteinerte Austern, Seeigel und Schwämme. Müde und voller neuer Eindrücke kehrten wir mit dem letzten Dampfer aufs Festland zurück.
Vor der Schule verabschiedeten wir uns alle voneinander. Mein Klassenkamerad Klaus brachte mich noch nach Hause. Und beim Abschied fragte er mich, ob wir zusammen gehen wollten? Ein wenig überraschte mich die Frage, denn Klaus und ich waren seit der ersten Klasse ein unzertrennliches Pärchen. Doch ich sagte schnell „ja gerne“. Sofort begannen wir Pläne zu schmieden: Nach Schule und Lehrzeit wollten wir beide Insulaner werden. Auf Hiddensee würden wir glücklich und in Harmonie leben. Diesen gemeinsamen Traum besiegelte unser erster zarter Kuss.
Erst als ich im Bett lag, wurde mir bewusst, dass ich an diesem Tag meinen ersten Kuss, die erste Liebeserklärung bekommen hatte. Stunden lag ich noch wach und malte mir Bilder aus von meiner Zukunft mit Klaus.

Am nächsten Morgen begrüßten wir uns ziemlich verlegen. Zuerst ging jeder seinen eigenen Aufgaben nach. Ich half einem Bauern, der Drittklässlern Reitunterricht gab. Meine ersten Erfahrungen auf dem Rücken eines Pferdes hatte ich schon mit vier Jahren gehabt.
Die landwirtschaftliche Genossenschaft stellte dafür Pferde und Ponys zur Verfügung. Die Kleinen lernten Reiten und bekamen als Auszeichnung „Das goldene Hufeisen“.
Den Abschluss und besonderen Höhepunkt der Ferienwochen bildete das Ringreiten, welches in ein Dorffest eingebunden wurde. Wir bastelten uns dafür mittelalterliche Kostüme, selbstredend durften dazu die bunt bemalten Schilde nicht fehlen.
Sofern ich mein Amt erledigt hatte, fuhr ich zum Strand. Dort war Klaus als Helfer bei den Rettungsschwimmern. Er war nicht nur ein exzellenter Schwimmer, Klaus konnte besonders behutsam mit kleinen Kindern umgehen. Stundenlang mochte ich ihm bei seiner Tätigkeit zuschauen. Ich stellte mir dann immer vor, wie gut er später mit unseren Kindern zurechtkommen würde. Für mich stand außer Frage, Klaus musste Lehrer oder Kinderarzt werden. Nur er selbst war sich seiner Zukunft nicht so sicher. Sein größter Traum war immer, ein großer Schauspieler zu werden.
Besonders er freute sich, dass über die gesamte Ferienzeit Projekte, die von der Schule angeboten wurden liefen. Wir trugen uns schon vor Ferienbeginn in entsprechende Teilnehmerlisten ein. Wir beide hatten uns selbstverständlich für die Theater-AG entschieden, die unser Klassenlehrer leitete. Wir studierten entweder bekannte Stücke ein oder schrieben selbst welche.
Mein Lieblingsbuch zu der Zeit war "Pause für Wanzka" von Alfred Wellm. Daher schrieben mein Freund und ich das Buch einfach zu einem Theaterstück um. Der Lehrer Wanzka war die Hauptrolle. Anders als normale Lehrer konnte er in jedem Kind das besondere Talent finden. Es war nicht wichtig, jedem Schüler alles beizubringen. Den Jungen mit dem Forscherdrang für die Bausteine der Welt ließ er forschen und gab ihm dazu einen Chemiebaukasten. Das handwerklich begabte Mädchen sollte ihr Traumhaus zeichnen und mit Hammer und Säge arbeiten. Der Lehrer erklärte ihr, wie sie mit Hilfe einfacher Formeln maßstabsgetreue Modelle anfertigen konnte. Selbst bei den Streithähnen der Klasse fand Wanzka das verborgene Talent. Der eine wollte gerne Jurist werden, der andere entschied sich dafür, als Journalist zu arbeiten.
Für die Aufführung fehlten uns die notwendigen Requisiten. Unser Lehrer hatte einmal erwähnt, dass eine Dorfbewohnerin früher einmal Schauspielerin war.

Nach langem Hin und Her besuchten wir die Frau. Das fiel uns nicht leicht, weil im Dorf kursierten die wildesten Gerüchte über sie. Weder mein Freund noch ich hatten mit ihr außer höflichen Grüßen je ein Wort gewechselt.
Im Dorf hieß sie einfach nur Gerda, die Franzosenbraut. Sie war eine auffällige Person von sehr großer und schlanker Statur. Gerda trug immer einen blonden Aufsteckdutt und war außerdem stark geschminkt.
Durch den Dorftratsch hatten wir erfahren, dass sie die „Franzosenkrankheit“ hatte. Sie sollte sich nach dem Krieg ja mit vielen Besatzungssoldaten herumgetrieben haben. Und das hatte sie nun davon. Was immer diese „Franzosenkrankheit“ sein mochte, ich würde mich jedenfalls nie mit fremden Männern herumtreiben, denn so vernarbt wie Gerda wollte ich nicht herumlaufen müssen. Die Krankheit entstellte diese Frau und wir hatten große Angst, uns anzustecken. Denn trotz der starken Schminke im Gesicht waren die vielen kleinen Narben nicht zu übersehen.
Nachdem wir Gerda in der Haustür stehend unser Problem mit den Requisiten kurz geschildert hatten, bat sie uns in ihre Wohnung. Sie bot uns sogar Limonade und Kekse an. Dann erzählte sie von ihrer Arbeit beim Varieté. Sie zeigte uns viele Fotos und einige ihrer selbst angefertigten Kostüme.
Als wir von unserem Plan erzählten, den „Lehrer Wanzka“ mit Schülern auf die Bühne zu bringen, nahm sie richtig Anteil. Gerda zeigte uns eine Auswahl Schnurrbärte und Perücken für die Figur des Lehrers. Neben den benötigten Perücken durften wir auch Schminkstifte mitnehmen. Unser Requisitenproblem war gelöst.
Das Tollste aber war: Unser Stück wurde am Ende der Ferienspiele öffentlich am Abend des Dorffestes aufgeführt.
Ein paar Tage davor wurden im ganzen Dorf Aushänge gemacht. Und alle Schulkinder sammelten Zutaten für den Kuchenbasar. Wir klopften an jeder Haustür und bekamen Obst, Eier und alle anderen, notwendigen Zutaten von den Bäuerinnen. Am Tag vor dem Fest ging dann eine Gruppe Freiwilliger zum Dorfbäcker und es wurde fleißig gebacken. Die Resultate riefen jedes Jahr aufs Neue Begeisterung hervor. Ich meldete mich immer als Verkäuferin für den Basar, da es mir einen Riesenspaß machte, die Leckereien anzupreisen. Noch heute erinnere ich mich an den Spruch, der den Verkauf ankurbeln sollte: „Kümm se röver, kümm se rann, bi uns warst anschätt wi neben an“. Für alle, die des Plattdeutschen nicht mächtig sind, hier die Übersetzung: „Kommen sie rüber, kommen sie ran, bei uns werden sie beschissen wie nebenan“ Gaben die Leute eine Spende für den Kuchen, sagten wir: „De betahlt, hett nich nödig to danken“ Übersetzung: „Der bezahlt, der musst nicht danken“ und grinsten dabei übers ganze Gesicht.

Am Abend bevor der Dorftanz für Jung und Alt losging, führten wir unser Theaterstück auf.
Es wurde ein riesiger Erfolg und es gab jede Menge Applaus. Damit gingen die Ferien und der heiße Sommer 1968 für eine überglückliche Dreizehnjährige zu Ende.

Und in ihr tobt das Weib

Und in ihr tobt das Weib

Ihr Wunsch fortzugehen, war an zeitliche Perioden gebunden. Sie hätte sich gerne aus der selbst auferlegten Geiselhaft befreit. Nach Außen erschien sie als rührselige, verständnisvolle Ehefrau. Doch in ihrem Innern brodelte das Bedürfnis Versäumtes Glück der Jahre nachzuholen.
Als ihre Periode vor sieben Jahren allmählich ausblieb, hoffte sie, auch das Verlangen nach Veränderung würde nun ein Ende nehmen. Doch nichts änderte sich, weder der Gedanke an einen Neuanfang, noch der Zauber, den das andere Geschlecht auf sie ausübte. Zur Mitte des Monats überkam sie eine solche Lust Zärtlichkeiten zu empfangen, dass sie sich angesichts ihrer neunundfünfzig Jahre schämte.
Je mehr sie nach hemmungslosem Sex gierte, umso abweisender reagierte sie auf jede nette Berührung ihres Mannes. Nett, einfach nur nett! Sie hasste ihn oft dafür, flüchtig gestreichelt zu werden. Nach seiner Krankheit gab es für sie beide kein gemeinsames erotisches Erleben mehr. Zu Anfang entschuldigte er sich noch dafür. Später wurde das Thema, ebenso wie der Weihnachtsbraten, von der Speisekarte ersatzlos gestrichen.

Sie konnte sich für die Lage, in der sie sich befand, nur einen Vorwurf machen. Als sie Ende dreißig als junge Witwe ihren jetzigen Mann kennen lernte, hatte sie seine Lernfähigkeit überschätzt.
Das erste Ehejahr verlief noch einigermaßen harmonisch und sie musste nicht um jede Zärtlichkeit betteln. Doch schon bald wusste sie, sie hatte mit diesem Mann keinen Sechser im Lotto gewonnen. Er war ein Grobmotoriker, auch wenn sie sein Bemühen erkannte, ihr beim Vorspiel sexuelle Lust zu verschaffen. Nach und nach nahm seine Freude an Sinnlichkeit ab. Sie wurde manchmal richtig hysterisch. Vor allem, wenn er sich von hinten an sie kuschelte und dann wie ein Kind einschlief. Das war wie Folter. Sie platzte fast vor Verlangen nach ihm, und er? Er schnarchte.

Sie zog sich zurück. Verschaffte sich durch ihre Vorstellungskraft Befriedigung. Sie konnte sich in Tagträume so hinein steigern bis sie ihren Höhepunkt hatte und ermattet, wie nach gutem Sex vor sich hin schlummerte. Oft erinnerten ihre Traumpersonen an so reale Erlebnisse, dass sie aufpassen musste, Realität und Fiktion nicht zu verwechseln.
Gelegentlich gönnte sie sich das Vergnügen, in die Stadt zu fahren. Dann reichte schon ein nettes Männerlächeln beim Frisör, der Blickkontakt eines Verkäufers am Kiosk oder ein knackiger Hintern in der Einkaufspassage, um ihre Lust erneut zu wecken. Sie fragte sich oft, wann ihre Fantasien wohl nicht mehr so ausschweifend sein würden.

Schließlich hatte sie seit fast fünf Jahren ein Verhältnis mit dem Mechaniker ihrer Vertragswerkstatt. Das erste, was ihr bei diesem Mann auffiel, waren seine schlanken Hände, die alles mit Bedacht anfassten, als wäre ihr Tastsinn für etwas Besseres als Autos geschaffen. Er schleppte ihr Auto in die Werkstatt. Versprach, am nächsten Vormittag die Reparatur erledigt zu haben.
Als er kam, hatte sie schon eine Nacht mit diesem Mann in ihrer Vorstellung im Bett verbracht. Sie scherzte über seinen Dialekt. Das Norddeutsche war nicht zu überhören. Sie bot ihm Kaffee an. Über alles Mögliche unterhielten sie sich, als ob sie sich schon Jahre kennen würden. Bis sie ganz unbewusst auf seine Hände starrte. Die plötzlich ihre Wange streiften und dann auf der Innenseite ihres Armes mit den Fingerkuppen Kreise malten. In diesem Moment begriff sie, sie würden diesem Mann keinen Widerstand leisten. Sie schauten sich in die Augen, wussten, etwas war in ihrem Innersten geschehen. Als er dann mit seinen warmen Fingern ihre Lippen berührte, in unendlicher Sanftheit, raubte ihr das den Atem.
Ohne ein weiteres Wort gingen sie in ihr Schlafzimmer. Als ob es schon immer so war.
Stunden waren vergangen, seit er sich verabschiedet hatte. Sie aber lag immer noch erschöpft und glückselig auf dem feuchten Laken. Alles und Nichts tanzte in ihren Gedanken. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Gefühl leidenschaftlicher Hingabe und der Besorgnis, sich ohne Reue genommen zu haben, was ihr im Eheleben versagt geblieben war.
Insgeheim hoffte sie, dass eine Spur von Katzenjammer in ihr aufsteigen würde. Doch nichts dergleichen passierte in den nächsten Tagen. Nur bei dem Gedanken an diesen Mann glänzten ihre Augen verräterisch. Sie wartete auf einen Anruf. Nach vier Tagen kam ihr Liebhaber, wie sie ihn heimlich nannte.
In den ersten zwei Jahren trafen sie sich fast wöchentlich. Manchmal fuhren sie hinaus an den See und liebten sich auf einer Wiese oder bei Regen im Auto. Alles mit ihm war aufregend und verboten schön. Irgendwann sprach sie von der Vorstellung, alles aufzugeben und mit ihm etwas Neues zu beginnen.
Darauf hätte sie verzichten sollen. Er kam zwar weiterhin zu ihr, aber sie spürte, er entzog sich ihr mehr und mehr. Er meinte, er wäre zu alt für einen Neuanfang. Sie begann, auch um seine Zärtlichkeiten zu betteln.
Noch einmal mussten fast drei Jahre ins Land gehen, bis sie die Vertragswerkstatt wechselte.
Nun bereitete sie sich auf ihre Geburtstagsfeier zum Sechzigsten vor. Sie mochte Feierlichkeiten und auch, sich dafür schön machen. Trotz ihres Alters strahlte sie noch immer Weiblichkeit aus.
Viele Gratulanten kamen, um mit ihr zu feiern. Ihr Mann schenkte ihr eine Woche Kurzurlaub mit einer Iglu-Übernachtung in den Schweizer Alpen. Atemlos bezaubernd nannte sie diese Woche, als sie wieder zu Hause war. Doch sie verriet niemandem, wie und mit wem sie diese atemlose Woche verbrachte.

Waschtag

Waschtag


Gefaltete Hände
Reingewaschen
von Schandflecken
Spuren beseitigt
Beichtgeheimnis
in Seifenblasen
hinter Gitterstäben

Zum Ende
nur Schleudern
im Heiligenschein
wischiwaschi
mit einem Amen
wischiwaschi
geläutert für
den nächsten
Waschtag

... es schmerzt

Abgefahren der Zug
im Hals erstickte Worte
versunken alle Hoffnungen

Finsternis, die niemals mehr
den neuen Morgen blickt
im eisigen Wind
erfroren, selbst

zwischen Zeilen
haltlose Leere wo stumpfsinnig
Augen starren ins Grau
herein bricht die Nacht und
Todesstille beherrscht die Münder

Wie ein Kartenhaus fällt alles
zusammen und tut so weh

Vollmond

Vollmond

greifbar scheinst du
in durchwachter Nacht
Geheimnis im Halbdunkel
anziehend doch
nicht bereit
unwandelbar zu bleiben

gleichsam als Zeichen
verhüllen dich Wolken
etappenweise
mir zum Hohn
bis nichts bleibt
als Müdigkeit

ein liebender Mensch

ein liebender Mensch
nimmt dich in die Arme
bei deiner Geburt

ein liebender Mensch
nimmt dich in die Arme
auf dem Weg durchs Leben

ein liebender Mensch
nimmt dich in die Arme
beim Sterben

die Hände der Liebenden
erreichen dich
überall

Lufthoheit der Nebelkrähen oder vor den Wahlen

Über meinem Kopf hinweg tagt das Krähenparlament. Einige kommen, mit Privatjets eingeflogen, von auswärts. Verwerflich ist das nicht, schließlich gab man ihnen als Volksvertreter die Flügel. Ein Treffen an der Grenze, die Leistungsträger an die Macht, mit beiden Füßen vom Boden abhebend.
Ich betrachte die Krähenbeine. Dieses Orange ist eine Farbe, die auffällt. Man könnte sie glatt für so eine ABM-Truppe halten. Ein Euro-Jobber, aber nur wegen ihrer Farbe und Beweglichkeit. Farbe ist nicht alles, das sehe ich an einigen Krähen. Sie haben sich in den Nestern dort oben bequem eingerichtet und spielen mit dem Grün. Man darf ja nicht alles unter den Teppich kehren. Schließlich liegen die fetten Maden auch nicht mehr auf der Straße. In der Sitzungspause werden Kaviarhäppchen gereicht, auf dem untilgbaren Schuldenberg. Die Häppchen sind gegessen. Der Rest wird als Wahlgeschenk unters Volk gebracht. Verschwörungstheorien sind völlig aus der Luft gegriffen. Letzten Endes steht die Lobbykratie auf dem Prüfstand der Wirtschaft. Oder steht das Wort Lobbykratie, wie Demokratie auch, bereits auf dem Index der Anglizismen? Deutsche Vögel krähen im Nebel anders und sind uns doch so vertraut. Hört der Eiertanz der Edeleitelkeiten denn nie auf? Euer Züngeln scheint satanisch geprägt von alternativlosem Gedöns. Angriffslustig streckt ihr eure Hitchcockkrallen zum Schein den Banken entgegen. Das verstehe ich ja, schließlich sonnt sich jeder gern im Glanz. Denn Geld regiert die Welt und ihr seid auserwählt, um elegant zu manövrieren. Die Guten ins Kröpfchen ... ins eigene, wie sich wohl versteht.

Nur ich mag das tausenddeutige Geschrei nicht mehr hören. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Falls ihr euch doch einmal verletzt, nennt ihr es vornehm: Kollateralschaden.

Der Schusterpoet hätte gesagt: „Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst.“ Ihre Kunst, läge sie nur im Palavern, ich würde es hinnehmen. Aber sie scheißen auf den Bürger, sie scheißen auf mich.

Suche den Schimmelreiter

Suche den Schimmelreiter
immer noch
auf der Deichkrone
stürmischer Zeiten
längst verblichen liegen
Fäden auf dem Spinnrad
seltsam verschleiert
der unergründliche
Schattentanz am Horizont

wer hat sich den Schwung
meiner Schritte geborgt?

Einladung abgelehnt

Ich möchte mich nicht vergiften
an eurem Bankett
vollbeladen mit
Freund-Feind-Denken
durch Schönreden
heiligt der Zweck jedes Mittel
immer noch trieft das Blut
bis der letzte Feind
den ihr euch erkoren habt
abgeschlachtet und ausgeweidet
zur Belustigung der Gesinnungsgenossen
genossen und das Glas erhoben wird
auf eure Tugenden, die
darin bestehen Schweine zu finden

Es gibt nur eine Todsünde:
Das Böse in die Welt zu tragen

Die Tauben sterben nicht aus

die Hasen versuchen
das Fell der Ahnen loszuwerden
lassen sich Schlappohren wachsen
um jeder Erbkrankheit zu entgehen
der klassische Irrtum
das Opfer glaubt
die Flöhe im Pelz der Großeltern
vermehren sich noch über Generationen
/ Gras drüber / die einzige Lösung
sehen in jedem erhobenen Finger
ein Gewehr – auf sie – gerichtet

am Horizont die Vögel
erzählen ein Lied
vom Fuchs

Drahtseilakt

Ich verlasse mich
auf das lyrische ICH
verstecke Gelebtes
unter seidenem Unterrock
wie lächerlich
das Mädchen von Heute
zeigt sich burschikos
zaubert keine Tauben
aus dem Ärmel
Maria Spelterini
überlebte schon damals
die Überquerung
der Niagarafälle

zwielicht

tiefe augenschatten
zeichnen striche
hart verschmilzt das grau
hinter bleistiftscharfen linien
absolutes berührungsverbot
zwischen stirn und kinn reines
licht verhüllt gedanken
ganz zu werden
hinter bleichen wangenknochen
nebelfrei in sich getaucht
ihn und sie zu sehen

das Ende der Hängematte – oder die Guten ins Töpfchen

Pläne liegen im Tresor
entworfen das Menschenbild
Zukunft maßgeschneidert
Geburt und Tod
computergesteuert
Elite steht als Programm
der Schlüssel einer Gesellschaft
die Machbarkeitswelt
läutet das Ende
der Hängematte ein
alles Hässliche verschwindet
die Welt ein Ort
ohne Makel

buntstiftfarben

buntstiftfarben

der winterjasmin neigt
sein gelb hinab
auf den grabstein
gemeißelt ein vers
aus hohn
verwesen blätter
erdfarben

buntstiftfarben

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der winterjasmin neigt
sein gelb hinab
auf den grabstein
gemeißelt ein vers
aus hohn
verwesen blätter
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